Digitales IvAF NRW Fachforum:

11. Mai 2021

Digitale Teilhabe für Menschen mit Fluchterfahrung eröffnet neue Perspektiven

Recklinghausen, 11. Mai 2021   
Coronakonform und digital präsentierte sich das diesjährige
IvAF NRW Fachforum, zu dem die zehn IvAF NRW Netzwerke eingeladen hatten. Das Moderatoren-Duo Martin von Berswordt-Wallrabe und Silke Martmann-Sprenger, Chance + / Jobcenter Köln, begrüßten im Namen der Netzwerke aus dem professionell ausgestatteten Streamingstudio bei RE/init e.V. in Recklinghausen rund 150 Gäste aus Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, Wohlfahrt und Politik online. Auch die Referent*innen wurden digital zum Forum dazu geschaltet.

Schon bei der Begrüßung brachte Silke Martmann-Sprenger die besondere Ausgangsproblematik bei der Beratung von Menschen mit Fluchterfahrung während der Pandemie auf den Punkt: „Gerade unsere Zielgruppe braucht eine persönliche und vertrauensvolle Betreuung; E-Mail und Telefon reichen da oftmals einfach nicht aus.“ Deshalb war das Kontakthalten nach Ausbruch der Pandemie zuerst nur schwer möglich. „Wir Netzwerke mussten zunächst selbst viel dazu lernen. Wir sind aber froh, dass wir schon ab Herbst 2020 mit digitalen Formaten wie Sprachkursen oder dem Erstellen professioneller Bewerbungsunterlagen wichtige Angebote machen konnten.“

Die Arbeit der zehn IvAF NRW Projektverbünde, deren Arbeit vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und vom Europäischen Sozialfonds gefördert werden, stellte Ute Galonski, InCoach / BIG Bildungsinstitut im Gesundheitswesen gGmbH, vor. „Die NRW-Netzwerke decken in intensiven Beratungen den Prozess der Arbeitsmarktintegration von der Klärung über den Zugang zum Arbeitsmarkt über Praktika bis zur Begleitung nach Aufnahme einer Beschäftigung, Schulbildung oder Ausbildung ab.“, erläutert Galonski. „Dabei schulen 18 Trainer*innen der IvAF NRW Träger auch die Fachkräfte von Institutionen, Behörden - wie der Arbeitsagentur - oder den Kammern.“

Insgesamt kann das Netzwerk bemerkenswerte Erfolge vorweisen: In NRW wurden seit Mitte 2015 rund 15.000 Personen mit Fluchtgeschichte umfassend unterstützt, an 427 Schulungen haben fast 8.000 Fachkräfte teilgenommen. Besonders stolz sind die zehn IvAF NRW Netzwerke auf die gute Vermittlungsquote von 47% der Teilnehmenden in Arbeit, Ausbildung und Schule: Diese Quote konnte in den vergangenen Jahren fortlaufend verbessert werden. „Dabei hat sich ganz klar gezeigt: Der Weg zum Erfolg ist die kontinuierliche Begleitung der Geflüchteten“, so Galonski.“ 

Auch Serap Güler, Staatssekretärin für Integration im NRW-Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration, war bei der Fachtagung als Impulsgeberin online dabei. Sie betonte, dass Menschen mit Zuwanderungsgeschichte oft andere Bedarfe hätten. Das beträfe nicht nur fehlende digitale Endgeräte, sondern auch die Medienkompetenz. Durch Sprachprobleme sei das Homeschooling für Einwandererfamilien zudem oft besonders schwierig. 

Aber nicht nur das: Viele Unternehmen, die von Zuwander*innen geführt würden, seien oft noch nicht genug digitalisiert und während der Pandemie somit häufiger als digitale Geschäftsmodelle von Insolvenzen bedroht.

"Die Pandemie hält uns einen Spiegel vor, wo die Probleme liegen“, stellt Serap Güler fest. Sie stellte aktuelle Maßnahmen der Landesregierung sowie zukünftige Projekte vor. Zum Beispiel sei die Digitalisierung bei der „Teilhabe- und Integrationsstrategie 2030“ ein wichtiges Element. „Wir haben ambitionierte, aber realisierbare Ziele, wir sind auf einem guten Weg.“

Interessante Erkenntnisse aus der Forschung hatte Prof. Dr. Gregor Hohenberg, Hochschule Hamm-Lippstadt, Leiter der Stabsstelle für Digitalisierung und Wissensmanagement Lehrgebiet "IT, Medien- und Wissensmanagement", mitgebracht: Das Wesen der Digitalisierung ist die Interaktion zwischen dem Nutzerverhalten und den digitalen Innovationen – nicht die Technik steht im Vordergrund. Es geht darum, wie Menschen die vernetzten, digitalen Endgeräte nutzen – daraus entwickeln sich neue Märkte.“

Er verwies auf das teilweise emotionale Verhältnis, das gerade junge Menschen oft zu ihrem Smartphone hätten. Dies könne man nutzen. Besonders gute Erfahrungen habe er mit Projekten gemacht, bei denen zum Beispiel ein Rollenwechsel der / des Geflüchteten von der / dem Belehrten hin zum / zur Trainer*in erfolgt sei. Digitalisierung böte dort erstaunliche Möglichkeiten, neue und andere Perspektiven einzunehmen. 

HANDLUNGSBEDARFE UND PERSPEKTIVEN - DISKUSSION

Staatssekretärin Serap Güler warb für einen pragmatischeren Umgang mit Datenschutzfragen – so dass z. B. Behörden untereinander Daten austauschen dürfen, um den Geflüchteten und der Verwaltung die Arbeit zu erleichtern und Hürden abzubauen. „Wir fragen zu oft, wie viel etwas kostet oder wie risikoreich es ist, dabei bietet die Digitalisierung auch nach der Pandemie tolle Chancen.“ Beratungsprozesse für schwer erreichbare Gruppen, wie z. B. Mütter oder räumlich weit entfernte Personen, könnten dauerhaft auch digital angeboten werden. 

Insgesamt ist Serap Güler zufrieden mit dem Schub, der aus der Pandemie erwachsen ist: „Wer hätte gedacht, dass wir so viel und schnell auf Homeoffice umstellen oder digitale Angebot schaffen können? Verbände und Vereine haben hervorragende Arbeit geleistet. Wir müssen dafür werben, dass die Chancen größer als die Risiken sind.“

Beim Thema Datenschutz hält Prof. Dr. Hohenberg entgegen, dass auch der aktuelle Sicherheitsstatus kein Hemmschuh sei. „Das Problem ist, dass die Menschen besorgt sind, dass ihre Daten missbraucht werden. Wir müssen ihnen die Angst nehmen und Wege finden, die sicher sind.“ Leider hätten gerade Fach- und Führungskräfte in Verwaltung Probleme, diese Anforderungen zu adaptieren.

Esther Berg, stellvertretende Geschäftsführerin der AWO Unterbezirk Ennepe, wies darauf hin, dass rund 19% der Menschen immer noch Offliner seien – und dass diese nicht ausgeschlossen werden dürften. Viele Flüchtlinge könnten die Sprache nicht, manche auch nicht lesen oder schreiben und seien traumatisiert – diese Menschen müsse man durch soziale Arbeit, durch Beziehungsarbeit abholen. „Digitalisierung ist keine Naturgewalt, sondern ein Prozess, der gestaltet werden muss. Geflüchtete Menschen sind keine homogene Gruppe, es gibt sehr unterschiedliche Ausgangslagen und Bedürfnisse. Dafür müssen individuelle Angebote geschaffen werden. Wir brauchen einen ethischen Diskurs. Was ist gutes Handeln im Transformationsprozess? Wie kann eine gesamtdigitale Strategie zukünftig aussehen?“

Silke Martmann-Sprenger wies auf die besondere Lage der Frauen hin. „Wir müssen Menschen befähigen und sie weiter qualifizieren. Gerade Frauen brauchen niederschwellige Angebote. Erfreulicherweise haben wir festgestellt, dass wir weniger Abbrüche bei digitalen Qualifizierung haben, weniger Krankmeldungen und wir können Menschen in den Familien besser erreichen.“ Dabei sei der Kontakt dann am besten, wenn schon vorher ein Vertrauensverhältnis bestanden habe.

Unternehmer Markus Kamann, Geschäftsführer bei der gpdm, der Gesellschaft für Projektierungs- und Dienstleistungsmanagement GmbH, hält digitale Kompetenz für ein wichtigen Standard für alle Mitarbeiter*innen und Bewerber*innen. 

Ein viel größeres Problem sei für Unternehmer*innen aber der akute Mangel an Fachkräften: „Es sind einfach zu wenig Leute da – das hat nichts mit der Pandemie zu tun – wir als Unternehmer brauchen eine verlässliche Planungsgröße.“

BEST PRACTISE PROJEKTE NRW

Zum Thema „Digital Empowerment“ stellte Daniela Barfuß, Fachbereichsleitung bei ELnEt für den Bereich „Migration und Frauen“, vor, wie mit dem Messanger Dienst „SIGNAL“ und „Microsoft Teams“ unter anderem Sprachförderung, eine digitale Pinnwand und ein digitales Beratungscafé als einfach zu nutzende, mehrsprachige Angebote umgesetzt wurden. „Wir hatten erst ein paar Probleme, gerade bei der Installation, aber es wird immer besser angenommen. Man muss den Frauen Mut machen, die Tools einfach mal auszuprobieren.“ 

Die „Digitale Gesprächsrunde In Coach“ ist für Sozialpädagogin Silke Weber, Integrationsberaterin bei InCoach, ein voller Erfolg – vor allem weil der Kontakt mit dem ersten Lockdown sofort unterbrochen war. „Wir haben erst versucht, mit E-Mails den Kontakt wiederherzustellen, das hat aber nicht geklappt. Dann sind wir komplett auf ‚digital‘, in unserem Fall auf Teams, umgestiegen. Der Bedarf ist sehr groß, wir sind flexibel, machen das was ansteht. Wir haben Bewerbungen durchgearbeitet und uns auch zu Spaziergängen unter dem Motto ‚Walk + Talk‘ verabredet.“

Ein großes Problem für die digitale Teilhabe ist aber auch, dass es oft an Datenvolumen oder an Datengeschwindigkeit fehlt. Matthias Stratmann, Jobcoach bei Re/init, stellte unter dem Titel „WLan für alle ELnET“ das Freifunk-Konzept vor. Dabei wird nichtgenutzte Bandbreite über speziell eingerichtete Router per W-LAN angeboten. Flüchtlinge können sich jeder Zeit dort anonym einloggen und dieses nutzen. Die Abschottung zwischen den Netzen sei sichergestellt. Eine weitere Möglichkeit offeriert das Schweizer Unternehmen „swissconncept“, das in Kooperation mit „Ortel mobile“ 500 Bildungsträger in Deutschland unterstützt, die in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschkurse anbieten.

Simone Beule (CHANCE+ / Trainerin + Arbeitsmarktberaterin) stellte die digitalen Schulungen zum Thema „Arbeitsmarktzugang und rechtliche Rahmenbedingungen“ des Expert*innen Netzwerkes IvAF NRW“ vor. Themen sind: Aufenthaltsstatus, der Zugang zum Arbeitsmarkt, Fördermöglichkeiten, Aufenthaltsverfestigung und Bleibeperspektiven. Zurzeit sind 18 Trainer*innen in NRW aktiv. „Mit digitalen Schulungen können wir in Kontakt mit den Akteuren bleiben, für die Themen sensibilisieren und vor allem immer den neusten rechtlichen Stand vermitteln.“

Schwerpunktthema von Saskia Meis, Projektmitarbeiterin bei Partizipation Bergisches Städtedreieck – Zuständig für den Bereich „Partizipation Fair“ bei der Diakonie Wuppertal, ist die Arbeitsausbeutung. Sie hat sich auf die Beratung von Flüchtlingen spezialisiert, die von Menschenhandel, Zwangsarbeit und Ausbeutung betroffen sind. „Fast alle unsere Klienten*innen haben ein Smartphone. Wir arbeiten erfolgreich mit dem Messenger SIGNAL. So können wir einfach, schnell und kostenlos Dokumente austauschen und bearbeiten. Bei uns ist immer eine telefonische Beratung mit angebunden.“  Außerdem schult Saskia Meis digital IvAF Berater*innen zum Thema Arbeitsausbeutung, sensibilisiert, vermittelt Wissen und rechtliche Grundlagen. „Digital können wir viel mehr Experten*innen als analog erreichen und häufiger schulen. Außerdem ist die Kommunikation so einfacher, direkter. Auch Dokumente werden einfach schneller ausgetauscht und bearbeitet, als wenn man erst eine E-Mail mit PDF-Anhang schreiben muss.“

Jürgen Fehren / Koordinator alpha OWL II hatte ein Video mitgebracht, in dem ein gelungenes Beispiel für Arbeitsmarktintegration in einer veränderten Arbeitswelt mit digitalen Kompetenzen dargestellt wurde. Hier zeigt sich auch, dass der konsequente Erwerb von Kompetenzen und die frühzeitige Zusammenarbeit mit Uternehmen Schlüssel für den beruflichen Einstieg gewesen sind. 

FAZIT

Digitale Angebote können sehr gut bei der Unterstützung von Geflüchteten funktionieren, bieten sogar an einigen Punkten Vorteile bei Erreichbarkeit, Schnelligkeit und Niederschwelligkeit. Einigkeit besteht darin, dass sie den persönlichen Kontakt nicht vollständig ersetzen können, aber eine sehr wichtige Erweiterung darstellen und auch nach der Pandemie bleiben und sich weiterentwickeln sollten. 

Silke Martmann-Sprenger bilanziert für IvAF NRW: „Man braucht Zeit und Geduld und man muss die Menschen dort abholen, wo sie sind, schauen, welche digitalen Kompetenzen sie mitbringen. Der Prozess läuft, aber wir müssen eine durchgehende digitale Infrastruktur schaffen.“ 

Die Pandemie hat im Ergebnis die Netzwerke von IvAF NRW beflügelt und habe eine rasche Digitalisierung und neue Formate zur Unterstützung der Menschen hervorgebracht. Die gewonnenen Kompetenzen, das neue Wissen, die erlernten Fähigkeiten im Digitalen sehen die IvAF NRW Netzwerke als Gewinn an, sowohl in der Arbeit mit den Menschen als auch für die Menschen selbst. 

Und dass das IvAF NRW Fachforum 2021 auch digital erfolgreich sein kann, haben die Qualität der Referent*innen, die hohe Gästezahl und die gute Beteiligung in den Chats gezeigt. 

Text: Claudia Pejas

V. i. S. d. P. Detlev Becker, EWEDO GmbH Dortmund, Huckarderstr. 12,
44147 Dortmund, dbecker[at]ewedo.de

Hintergrund: Integration von Asylbewerber*innen und Flüchtlingen (IvAF)

Finanziert werden die IvAF Netzwerke aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des BMAS (Förderphase 2015-2021). Der ESF beschäftigt sich nicht erst seit 2015 mit der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Bereits 2002 ging es um die Integration von Flüchtlingen, damals mit einem Schwerpunkt berufliche Integration im Heimatland. Ab 2008 wurde erstmals ein Arbeitsmarktprogramm für Flüchtlinge in Deutschland auf den Weg gebracht. Im Jahr 2007 wurde eine Bleiberechtsregelung für langjährig Geduldete geschaffen. Doch die Geduldeten sahen sich vor hohe Hürden auf ihrem Weg in Beschäftigung gestellt und konnten ein Bleiberecht nur dann erhalten, wenn sie für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen konnten. Daher wurde 2008 das ESF-Bleiberechtsprogramm gestartet. IvAF ist heute das finanzstärkste Programm, welches sich ausschließlich um Flüchtlinge kümmert. Es hat Elemente aus dem Bleiberechtsprogramm aufgenommen und weitere Elemente eingebaut. Dazu gehört der zusätzliche Fokus auf die schulische Bildung als Voraussetzung von beruflicher Ausbildung.

Aus dem Programm heraus wurden politische Entscheidungen und Gesetzesänderungen angestoßen: Ausbildung ohne Vorrangprüfung, Bleibeperspektive mit direktem Zugang zum Arbeitsmarkt, ab 2014 die schrittweise Reduzierung der Wartezeit – von zwölf und neun auf drei Monate. Dadurch erhielten die Angekommenen einen schnelleren Zugang zu Beratungsleistungen. Das Integrationsgesetz 2016 brachte unter anderem die „Ausbildungsduldung“: Geflüchtete bekommen eine Duldung für die gesamte Dauer der Ausbildung und dann die Erlaubnis, als qualifizierte Fachkraft in ihrem Beruf in Deutschland zu arbeiten.Mittlerweile gibt es bundesweit 40 IvAF-Netzwerke mit ca. 300 Teilprojekten, ein Viertel der Projekte sind in NRW verortet. Unterschiedlichste Projekte wurden entwickelt, die den Menschen helfen sollen: Von sozialer Begleitung über Kompetenzfeststellungen bis hin zu Anstellungsbegleitung reicht die Spanne.